Nektar-Evolution: Quantität geht vor Qualität

13.01.2017

Wissenschaftler der HU entdecken einen Mechanismus, der nicht-rationales Verhalten erklären könnte

Haben wir die Wahl zwischen zwei Optionen, wählen wir in der Regel die bessere. Entscheiden wir uns hingegen für die schlechtere, scheinen die Entscheidungsmechanismen in unserem Gehirn fehlerhaft, und man spricht von nicht-rationalem Verhalten. Prof. Dr. York Winter und Dr. Vladislav Nachev vom Exzellenzcluster NeuroCure der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) konnten gemeinsam mit Kollegen der Universitäten Bielefeld, Nebraska und Cambridge einen neuen Mechanismus entschlüsseln, der dieses Verhalten verursachen könnte. Ihre Ergebnisse stellen sie in der Fachzeitschrift Science vor.

Am Beispiel von Blütenpflanzen und ihren Bestäubern konnten die Forscher zeigen, dass das Wahlverhalten der Blütenbesucher einen Evolutionsprozess antreibt, der zu qualitativ minderwertigem Nektar führt: Für die Bestäuber ist der Zucker im Nektar der Energiebrennstoff fürs Überleben. Tropische Blüten, die von Kolibris oder Langzungenfledermäusen besucht werden, haben aber nur einen stark verdünnten, fast wässrigen Nektar. Er ist also qualitativ nicht sehr hochwertig.

Warum hat sich aber ein Evolutionsprozess hin zu wässrigem Nektar ergeben? Um diese Frage zu beantworten, haben die Wissenschaftler eine virtuelle Evolutionssimulation im Regenwald von Costa Rica durchgeführt: Im Freiland installierten sie ein Feld künstlicher Blüten mit je einem Satz virtueller Gene, welche die Nektarsüße bestimmte. Eine computer­gesteuerte Nektar­mischanlage versorgte die Blüten mit Nektar unterschiedlicher Süße. Als nächstes markierten die Neurobiologen freilebende Langzungenfleder­mäuse elektronisch, um deren Besuchsverhalten zu erfassen. Besuche von Blüte zu Blüte zählten als Pollenübertragung und führten zur Erzeugung virtueller Samen. Am Ende jeder Nacht bestimmten die Forscher aus einem Haufen virtueller Pflanzensamen per Zufalls­wahl die Generation der nächsten Nacht.

Es zeigte sich, dass die Tiere Blüten mit verdünntem Nektar bevorzugten und deshalb die entsprechenden Genvarianten häufiger vorkamen. Ziel der Studie war, die zugrundeliegenden kognitiven Entscheidungsmechanismen zu erforschen, die zu dieser vermeintlich nicht-rationalen Entscheidung führen.“ Wahlexperimente mit Fledermäusen im Labor zeigten vor allem bei großer Konkurrenz eine leicht „verbogene“ Wahrnehmung: Zwar können die Tiere mehr Süße als stärkere Intensität empfinden, dies wird jedoch zunehmend abgeschwächt durch die Wahrnehmung der Nektarmenge. Für Winter ist dieser Effekt der Schlüssel zur Erklärung des Wahlverhaltens: „Die Tiere wägen für ihre Entscheidungen Qualität und Quantität ab. Bei knappem Angebot bevorzugen sie die Blüten, die mehr Nektarvolumen herstellten, obwohl damit ein Zuckerverlust einhergeht. Weil sie nicht rein rational entscheiden, müssen sie sich jetzt mit verdünntem Nektar begnügen.“

Im Allgemeinen sind diese Ergebnisse auch auf den Menschen übertragbar: „Das liegt am Weber-Fechnerschen Gesetz der Psychophysik“, erklärt Winter. Demnach seien Menschen gefährdet, nicht-rational zu entscheiden, wenn sie bei einer Entscheidung mehrere Merkmale gleichzeitig berücksichtigen müssen. „Dann kann eine Eigenschaft, nach der wir ein besonders großes Verlangen haben, uns übermäßig beeinflussen, wenn sie nur wenig angeboten wird. Vielleicht sollten wir beim nächsten Mal nochmal genau abwägen, bevor wir beim Smartphone-Kauf die letzte Entscheidung treffen.“
 
Originalveröffentlichung:
“Cognition-mediated evolution of low-quality floral nectars”
von: Vladislav Nachev, Kai Petra Stich, Clemens Winter, Alan Bond, Alan Kamil, York Winter
in: Science (2017), DOI: 10.1126/science.aah4219 Link
 
Quelle:
 
Kontakt:
Prof. Dr. York Winter
Exzellenzcluster NeuroCure
Humboldt-Universität zu Berlin
Tel.: 030 2093 47940
E-Mail: york.winter@charite.de
 

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