Die Vermessung der Welt durchs Gehirn: Forscher identifizieren Schaltkreise, mit denen Ratten ihre Umwelt kartieren

26.05.2011

Erstmals können Forscher der Humboldt Universität zu Berlin, des Bernstein Zentrums Berlin und des Exzellenzclusters NeuroCure erklären, wie die zelluläre Architektur des Ortsgedächtnisses mit dessen Rolle bei der Orientierung zusammenhängt. In der Fachzeitschrift Neuron präsentieren sie eine neue Technik, mit der sie die Aktivität und Verschaltung einzelner Nervenzellen in freilaufenden Tieren untersuchen konnten. Diese Methode ermöglichte es ihnen, die Schaltkreise zu identifizieren, mit denen Ratten die räumliche Struktur ihrer Umwelt erfassen und erlernen.

Welche Zellen in unserem Gehirn wann miteinander kommunizieren, ist bis heute noch weitgehend unverstanden. Denn bisher mussten Wissenschaftler wählen: Entweder untersuchten sie Aufbau und Verknüpfungen, indem sie die Zellen anfärbten oder sie maßen deren Aktivität. Beides gleichzeitig zu erfassen galt besonders bei freilaufenden Tieren als beinahe unmöglich. Nun konnten Professor Dr. Michael Brecht, Leiter des Bernstein Zentrums Berlin, und sein Kollege Dr. Andrea Burgalossi mit einer neuen Methode diese Probleme lösen. In Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Berlin entwickelten sie einen neuen Stabilisierungsmechanismus für die Messelektrode. Er erlaubte ihnen, Zellen im Bereich des Ortsgedächtnisses der Ratte (den medialen entorhinalen Kortex) anzufärben und gleichzeitig deren Aktivität zu messen, während die Tiere ihre Umwelt erkundeten. Anatomische Untersuchungen gaben Aufschluss über die Verschaltung der gemessenen Zellen. Mit dieser neuen Methode konnten die Wissenschaftler erstmals die neuronalen Schaltkreise darstellen, die für die räumliche Orientierung verantwortlich sind.

An Orientierung und Ortsgedächtnis sind bei Ratten zwei Zelltypen hauptsächlich beteiligt. Erkundet ein Tier seine Umgebung, ist ein Teil der Zellen aktiv. Als wäre die gesamte Umgebung mit einem virtuellen Gitter überzogen, sind an jedem der Gitter-Schnittpunkte spezifische Zellen aktiv. Man vermutet, dass die als „Grid-Cells“ („Gitter-Zellen“) bezeichneten Zellen eine Art Karte bilden, die es dem Tier erlauben, Entfernungen zu „messen“ oder seine Position im Raum einzuschätzen. Der andere Zelltyp ist dann besonders aktiv, wenn das Tier in eine bestimmte Richtung blickt. Diese Zellen scheinen eine Art Kompass für das Tier zu bilden. Wie die beiden Zelltypen für eine funktionstüchtige Orientierung und räumliches Gedächtnis zusammenarbeiten, war bislang unbekannt. Michael Brecht und Andrea Burgalossi stellten jetzt fest, dass die funktionsgemäß unterschiedlichen Zelltypen in kleinen Feldern angeordnet und an klar abgegrenzten Stellen angelegt sind. Indem sie die Verbindungen zwischen den beiden Zelltypen darstellten, konnten die Forscher nachvollziehen, wie sie für die Entstehung des Ortsgedächtnisses zusammenarbeiten.

Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die beiden Zelltypen durch ganz gezielte Verbindungen miteinander kommunizieren. Diese könnten es den Tieren erlauben, Informationen über die räumliche Orientierung und die Blickrichtung zu vereinen. Diese Miniatur-Schaltkreise stellen möglicherweise die neuronalen Grundeinheiten dar, die den Orientierungssinn erzeugen. Die Alzheimer-Erkrankung hat in dieser Region des Gehirns ihren Ursprung. Betroffene leiden oft unter anderem an Orientierungslosigkeit. Erkenntnisse über die Organisation und Verschaltung der Zellen könnten damit auch zum grundlegenden Verständnis der Alzheimer’schen Erkrankung beitragen.

Das Bernstein-Zentrum Berlin ist Teil des nationalen Bernstein Netzwerks Computational Neuroscience (NNCN). Das NNCN wurde vom BMBF mit dem Ziel gegründet, die Kapazitäten im Bereich der neuen Forschungsdisziplin Computational Neuroscience zu bündeln, zu vernetzen und weiterzuentwickeln. Das Netzwerk ist benannt nach dem deutschen Physiologen Julius Bernstein (1835-1917).

Originalveröffentlichung:
Burgalossi et al., Microcircuits of Functionally Identified Neurons in the Rat Medial Entorhinal Cortex, Neuron (2011), doi:10.1016/j.neuron.2011.04.003

Weitere Informationen erteilt Ihnen gerne:
Prof. Dr. Michael Brecht
Michael.Brecht@bccn-berlin.de
Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience
Humboldt-Universität zu Berlin
Philippstr. 13, 10115 Berlin
Tel: 030 2093-6770

Weitere Informationen:
www.neurocure.de Exzellenzcluster NeuroCure
www.bccn-berlin.de Bernstein Zentrum Berlin für Computational Neuroscience
www.nncn.de Nationales Bernstein Netzwerk für Computational Neuroscience
www.hu-berlin.de Humboldt Universität zu Berlin

Die spezielle Verschaltung zweier Zelltypen ist die Grundlage unseres Ortsgedächtnisses. Bild: Henrik Gerold Vogel/pixelio.de
Die spezielle Verschaltung zweier Zelltypen ist die Grundlage unseres Ortsgedächtnisses. Bild: Henrik Gerold Vogel/pixelio.de

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