Lässt sich der altersbedingte Gedächtnisverlust bremsen?

14.04.2021

Wissenschaftlerteam aus Berlin, Dortmund und Graz ergründet, wie die Substanz Spermidin die Zellen im alternden Gehirn schützt

Der altersbedingte Gedächtnisverlust ist einer Studie zufolge keine zwangsläufige Entwicklung. Wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Freien Universität, des Exzellenzclusters NeuroCure, des Leibniz-Instituts für Analytische Wissenschaften (ISAS) in Dortmund und der Universität Graz herausfanden, kann die Substanz Spermidin, die in allen Zellen des Menschen vorkommt, Mitochondrien im alternden Gehirn schützen. Die Mitochondrien – Kraftwerke der Zelle mit eigener Erbsubstanz – behalten dadurch ihre Funktion. Dem Forschungsteam gelang es, den Wirkmechanismus des Spermidins im Gehirn von alternden Fruchtfliegen zu ergründen. Sie zeigten in der Studie, dass die Aufnahme von Spermidin die Aktivität der Mitochondrien in alternden Fliegen erhöhen und damit den altersbedingten Gedächtnisverlust vermindern kann. Die Studie erschien in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Cell Reports.

Dem Team gelang der Nachweis, dass die Aufnahme von Spermidin die Aktivität der Mitochondrien in alternden Fliegen deutlich erhöhen kann. Mechanistisch identifizierten sie die sogenannte „Hypusinierung“ als zentralen Faktor. Bei der Hypusinierung wird ein Teil des Spermidin-Moleküls auf einen spezifischen Faktor übertragen, der eine Art Motor der Proteinsynthese darstellt. „Die Hypusinierungs-Reaktion scheint auch ursächlich für die verbesserte Mitochondrienwirkung nach Spermidingabe zu sein“, erklärt Prof. Dr. Stephan Sigrist, NeuroCure PI. Die Hypusinierung, die in allen Tieren und im Menschen beobachtet wird, sei direkt durch Spermidin gesteuert und könnte einen guten Teil der Spermidin-Effekte erklären. Der Erstautor der Studie, Yong-Tian Liang, erläutert: „Die durch Spermidin-vermittelte Hypusinierung könnte einen wichtigen diagnostischen und therapeutischen Indikator bei Aspekten der Gehirnalterung darstellen, welche durch mitochondrialen Funktionsverlust hervorgerufen werden.“

Beteiligt waren neben der Arbeitsgruppe von Stephan Sigrist das Team um Albert Sickmann, ISAS Dortmund, und Frank Madeo von der Universität Graz. Die Arbeitsgruppe von Stephan Sigrist und den Kolleginnen und Kollegen werden diesen Zusammenhang nun in alternden Mäusen und anschließend in Zusammenarbeit mit dem Exzellenzcluster NeuroCure Cluster, der die Arbeit von Stephan Sigrist unterstützt, auch im Menschen untersuchen. Die Mitglieder des Exzellenzclusters NeuroCure an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, dem gemeinsamen medizinischen Fachbereich von Freier Universität und Humboldt-Universität zu Berlin arbeiten zum Forschungsschwerpunkt Neurowissenschaften.

Der altersbedingte Gedächtnisverlust ist eine häufige Begleiterscheinung, die als Teil des normalen Alterungsprozesses auftritt. Mit der stetig steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung kommt eine solche Erinnerungsstörung immer häufiger vor und entwickelt sich somit zu einer psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Belastung der Gesellschaft. Der verständliche Wunsch bis ins hohe Alter körperlich und auch geistig gesund zu bleiben wird immer häufiger durch altersbedingte Erkrankungen beeinträchtigt.

„Die Gesundheit und das Funktionieren unsere Körperzellen basiert auf komplexen Mechanismen“, erläutert Stephan Sigrist. „Wie bei allen komplizierten Mechanismen geht auch in der Zelle manchmal etwas schief. Eiweiße könnten sich verfalten und dabei klumpen, aber auch die kleinen Kraftwerke unserer Zellen, die Mitochondrien entwickeln toxische Substanzen wie Sauerstoffradikale und beeinträchtigen dadurch die Zellen.“ Diese Prozesse treiben dem Wissenschaftler zufolge vor allem auch die Alterung des wahrscheinlich komplexesten Organs des Menschen voran, des Gehirns. Dies könne sich in nachlassender Erinnerungsfähigkeit aber auch verschiedene Neurodegenerationen wie bei der Krankheit Alzheimer äußern. In der Wissenschaft wird deshalb nach Substanzen und Wirkstoffen gesucht, die das Fortschreiten dieser Alterungsprozesse aufhalten bzw. zumindest bremsen könnten. Wissenschaftler der Universität Graz hatten Spermidin als eine der vielversprechendsten Substanzen ausgemacht. Spermidin wird zurzeit im Menschen getestet.

Erstmals im Sperma entdeckt, kommt Spermidin im menschlichen Körper in fast allen Zellen vor. Allerdings nimmt mit zunehmendem Alter die Spermidin-Konzentration beim Menschen ab. In Tiermodellen wie Fruchtfliegen, aber auch in Mäusen konnte durch eine Nahrungszufuhr von Spermidin („Spermidin-Supplementation“) die gesunde Lebensspanne verlängert und auch der altersbedingte Gedächtnisverlust zumindest gebremst werden. Allerdings waren die Mechanismen, die der Spermidin-Wirkung im Gehirn zugrunde liegen, nur unzureichend verstanden, ein solches Verständnis ist aber Voraussetzung für die weitere Optimierung von Therapiekonzepten. Hier setzte die Studie des Forschungsteams an.

Quelle: Pressemitteilung der FU

Originalpublikation:
Liang et al., eIF5A hypusination, boosted by dietary spermidine, protects from premature brain aging and mitochondrial dysfunction. Cell Reports, 13.4.2021, DOI: 10.1016/j.celrep.2021.108941.

Kontakt:
Prof. Stephan J. Sigrist
Department of Biology
Chemistry, Pharmacy
Freie Universität Berlin
E-Mail: stephan.sigrist@fu-berlin.de

 

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