Langzeitgedächtnis in der Hirnrinde
27.08.2013
Wo und wie das Gehirn Gedächtnisinhalte festhält, ist eine der interessantesten Fragen der Neurowissenschaften. Lange galt der Hippocampus als ein Gedächtniszentrum im Gehirn, in dem Erinnerungen dauerhaft abgelegt werden. Mazahir T. Hasan vom Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg und José Maria Delgado-Garcìa von der Universität Pablo de Olavide in Sevilla haben herausgefunden, dass Erinnerungen an miteinander verknüpfte Sinneswahrnehmungen in der Großhirnrinde liegen und nicht im Hippocampus, wie in den meisten Lehrbüchern beschrieben. Die Ergebnisse der Studie verändern die bisherige Vorstellung vom Gedächtnis fundamental, nach der der Hippocampus als Speicherort genutzt wird. Stattdessen werden manche Gedächtnisinhalte in der motorische Großhirnrinde gespeichert.
Henry Molaison, abgekürzt H. M., ist ein berühmter Name in der Gedächtnisforschung. Um seine epileptischen Anfälle zu lindern, wurden dem Amerikaner in den 1950er Jahren große Teile des Hippocampus entfernt – eine Gehirnregion, die maßgeblich an Lern- und Gedächtnisvorgängen beteiligt ist. Er litt seitdem unter schweren Gedächtnisausfällen und konnte sich an neu Erlerntes meist nicht mehr erinnern. Die meisten Wissenschaftler schlossen daraus, dass der Hippocampus der Ort des Langzeitgedächtnisses ist.
Offenbar wurde aber das Ausmaß der Hirnverletzungen von H.M. unterschätzt, denn bei der Operation wurden neben dem Hippocampus noch weitere Regionen entfernt oder verletzt, die ebenfalls wichtige Gedächtnisfunktionen besitzen. Den neuen Ergebnissen der Forscher aus Heidelberg und Sevilla zufolge ist nämlich nicht der Hippocampus der Speicherort, sondern die Großhirnrinde.
Die Wissenschaftler haben das Lernverhalten genetisch veränderter Mäuse untersucht, bei denen sogenannte NMDA-Rezeptoren ausschließlich in der motorischen Hirnrinde ausgeschaltet sind. NMDA-Rezeptoren binden den Neurotransmitter Glutamat an den Synapsen und werden aktiv, wenn gleichzeitig mehrere Signale an einer Synapse einlaufen. Sie sind die zentralen molekularen Elemente von Lernvorgängen, indem sie dazu beitragen, die Signalübertragung an Synapsen zu verstärken oder abzuschwächen. Auch in der motorischen Hirnrinde funktioniert diese sogenannte synaptische Plastizität ohne die NMDA-Rezeptoren nicht mehr, wie die neue Studie zeigt. So konnten sie den Hippocampus oder andere Regionen als Ursache für ihre Beobachtungen ausschließen.
Die Mäuse sollten in Verhaltenstests lernen, einen Ton mit einem darauf folgenden schwachen elektrischen Reiz des Augenlids zu verknüpfen. Als Reaktion auf den Reiz schließen die Tiere reflexartig ihr Auge. Nach einer Lernphase schließen die Tiere ihr Auge bereits, wenn sie nur den Ton hören, der den elektrischen Reiz ankündigt. An diesem Lernvorgang ist neben dem Hippocampus und der Großhirnrinde als wichtigen Lern- und Gedächtniszentren auch das Kleinhirn beteiligt, das die notwendige Bewegung des Augenlids koordiniert. „Ohne NMDA-Rezeptoren in der primären motorischen Großhirnrinde können sich die genetisch veränderten Mäuse dagegen den Zusammenhang zwischen Ton und elektrischem Reiz nicht merken. Sie halten die Augen deshalb offen, auch wenn der Ton einen Reiz ankündigt“, erklärt Hasan, der inzwischen am NeuroCure an der Berliner Charité forscht.
Die Forscher ergänzen damit frühere Erkenntnisse von Kollegen am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung. Im Juli 2012 hatten Rolf Sprengel und Peter Seeburg entdeckt, dass Mäuse auch ohne NMDA-Rezeptoren im Hippocampus räumliche Zusammenhänge lernen und speichern können. „Wir gehen deshalb davon aus, dass der Hippocampus als Entscheidungsinstanz dient und Informationen über die Umwelt an die Großhirnrinde weiterleitet, wo Sinneswahrnehmungen miteinander verknüpft werden. Die Gedächtnisinhalte werden dann dauerhaft an verschiedenen Stellen in der Großhirnrinde abgelegt“, erklärt Hasan.
Dass die Großhirnrinde der Ort ist, wo das Gehirn Assoziationen dauerhaft speichert, widerlegt die gängige Lehrmeinung über die Speicherung von Erinnerungen. Mit ihren Ergebnissen präsentieren Hasan und Delgado-Garcìa ein völlig neues Modell für die Organisation des Gedächtnisses. Die Erkenntnisse könnten eines Tages helfen, Gedächtnisverlust im Alter oder bei neurologischen Erkrankungen besser zu behandeln.
Hier Geht es zu einem Interview von Mazahir T. Hasan mit dem Deutschlandfunk