Neue Rolle der Autophagosomen bei Neurodegeneration entschlüsselt
10.04.2017
Durch den Nobelpreis für Medizin 2016 sind sie richtig bekannt geworden: Autophagosomen, jene Membranbläschen, die in Zellen für die Müllentsorgung zuständig sind und gleichzeitig Nährstoffe liefern. Auch Forscher des Leibniz-Instituts für Molekulare Pharmakologie (FMP) in Berlin und des Forschungszentrums CECAD in Köln beschäftigen sich mit den Abbau- und Recyclingprozesssen und sind ihnen jetzt auf verblüffende Weise nahe gekommen: Es sind nämlich Autophagosomen, die Wachstumssignale wie BDNF aus als Axone bezeichneten Nervenzell-Fortsätzen rückwärts zum Zellkörper transportieren und so die Bildung neuer verzweigter Nervenfortsätze anregen und für das Überleben der Nervenzellen sorgen. Fehlen diese Taxis, kommt es zum Untergang von Nervenzellen im Gehirn. Die neue Entdeckung wirft zum einen ein völlig neues Licht auf die Rolle der Autophagosomen, und zum anderen weckt sie Hoffnung auf neue Behandlungsmöglichkeiten für Alzheimer und andere neurodegenerative Erkrankungen. Die Ergebnisse der Arbeit wurden soeben in der renommierten Fachzeitschrift „Nature Communications“ publiziert.
Dass Autophagosomen eine wichtige Bedeutung für unseren Körper haben, dürfte vielen Menschen seit der letzten Nobelpreisverleihung klar geworden sein. Dabei handelt es sich um eine Art Müllabfuhr, die zelleigene Abfälle in der Zelle transportiert und gleichzeitig die darin befindlichen Grundstoffe für die Zelle wieder verwertbar macht. Der japanische Zellforscher Yohinori Ohsumi erforschte als erster diesen Prozess der Autophagie und konnte in den 1990er Jahren die Gene dieses Abbau- und Recyclingprozessses in menschlichen Zellen bestimmen. Im Herbst 2016 hat er schließlich den Medizin-Nobelpreis für seine bahnbrechenden Arbeiten erhalten.
Identität des Taxis aufgeklärt
„Wir wussten zwar, dass es diese Taxis gibt und sie die BNDF-Signale rückwärts in die Nervenzelle fahren, aber nicht dass es sich dabei um Autophagosomen handelt“, erläutert FMP-Direktor Prof. Dr. Volker Haucke, der die Zusammenhänge zwischen Entwicklung des Nervensystems und Neurodegeneration schon seit längerem erforscht. „Somit spielen diese Recyclinghelfer bei neurodegenerativen Prozessen eine noch ganz andere Rolle als bislang vermutet", ergänzt Dr. Natalia Kononenko, die Erstautorin der Studie, die seit 2015 die Forschungsgruppe „Molekulare und zelluläre Ursachen neurodegenerativer Erkrankungen“ an der Universität Köln leitet.
Neu ist auch die Erkenntnis, dass die signalabhängige Bildung von Autophagosomen in den Nervenzellfortsätzen (Axonen) und ihr Transport zum Zellkörper (Soma) Teil eines sich selbst verstärkenden Kreislaufs ist. Denn eines der Ziel-Gene, die im Zellkörper der Nervenzelle durch das eintreffende BDNF-Signal angeschaltet werden, ist wiederum das BDNF-Gen selbst. Werden die Signale jedoch schwächer oder bleiben ganz aus, zum Beispiel weil die Produktion von Autophagosomen altersbedingt nachlässt, hat das verheerende Folgen. „Wenn dieser Kreislauf an einer Stelle unterbrochen wird, sei es dadurch, dass der Motor des Taxis defekt ist oder weniger Autophagosomen gebildet werden, kann das BDNF-Signal nicht mehr rückwärts laufen und es kommt praktisch kein positives Signal mehr im Zellkern an“, erklärt Haucke. „Dann bekommen wir kein ordentliches Auswachsen der Neuriten mehr und sehen zum Teil massive Neurodegeneration.“
Ohne Autophagosomen kein Wachstumssignal
Wozu aber fahren Autophagosomen die BDNF-Signale überhaupt rückwärts in den neuronalen Zellkörper hinein? Diese Fahrt dient laut den Forschern der Kontrolle der Umgebung. Die Nervenfortsätze liegen nämlich vom Entscheidungszentrum der Nervenzelle relativ weit weg. Um zu prüfen, ob es sich lohnt, Nervenfortsätze in die Umgebung auswachsen zu lassen, sendet der Zellkern die Signale auf die Reise. Die Forscher spekulieren, dass die Autophagosomen bei dieser Kontrollfahrt eine Art Schutzfunktion übernehmen, indem sie den Rezeptor, an den BDNF bindet, aufnehmen und aktiv halten. Unter so viel Geleitschutz kann das Wachstumssignal sicher im Zellkern ankommen, was wiederum wichtig ist, um neue Nervenfortsätze oder Verzweigungen zu bilden.
Mit der Entdeckung der Identität des Taxis und des Adapters, der den Motor ans Taxi bringt, haben die Teams um Haucke und Kononenko eine große Wissenslücke geschlossen. Doch viel wichtiger ist das, was sich daraus ableiten lässt. Die Forscher vermuten, dass wenn man die Autophagosomen-Synthese anfährt und es schafft, mehr Taxen zu generieren, positiv gegen Nervenzelldegeneration ankämpfen kann. Kurzum: Es besteht Hoffnung, völlig neue Behandlungsmöglichkeiten für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Chorea Huntington oder Parkinson zu finden.
Dem Untergang von Nervenzellen mit Polyaminen entgegenwirken
In einem - von dieser Arbeit unabhängigem - Forschungsprojekt wird diese Vermutung unter FMP-Beteiligung augenblicklich überprüft. Bei Mäusen, aber auch bei Alzheimer-Patienten versuchen Ärzte gemeinsam mit Grundlagenforschern, die Konzentration der Autophagosomen im Körper zu erhöhen, und zwar durch die Zufuhr von Polyaminen. Dieser Naturstoff kommt auch in Lebensmitteln wie der japanischen Sojabohnenpaste Natto reichlich vor und eignet sich darum hervorragend für die Untersuchung. Ob man die Autophagie durch die Gabe von Bohnenpaste ankurbeln kann, wird man erst in ein einigen Jahren wissen. Aber der Weg liegt für die Forscher klar auf der Hand: „Wir haben gesehen, welche fatalen Konsequenzen eine nachlassende Produktion oder ein defekter Transport von Autophagosomen auf die Nervenzellen hat“, sagen Natalia Kononenko und Volker Haucke, „deswegen liegt es nahe, nach Substanzen zu suchen, die diesen Prozess wieder ankurbeln können.“
Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP), Excellenzcluster NeuroCure
Phone +49-30-94793101
E-Mail: HAUCKE@fmp-berlin.de