Wie Nacktmulle Sauerstoffmangel trotzen

25.04.2017

Wenn Nacktmullen in ihren Höhlen die Luft zum Atmen fehlt, haben sie eine unter Säugetieren einzigartige Überlebensstrategie. Sie können empfindliche Organe wie Herz und Gehirn zeitweise unabhängig von Sauerstoff mit Energie versorgen und stellen dafür ihren Stoffwechsel von Glukose auf Fruktose um. Das beschreibt ein Team um Gary Lewin vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) nun im Fachjournal Science.

Während die Artgenossen bereits auf dem Weg zu ihren Posten sind, bleiben einige der Nacktmulle kurz auf dem Rücken liegen und rühren sich nicht. Die eusozialen Tiere sind nicht etwa zu faul, um ihre Aufgabe im Staat zu erfüllen. Vielmehr hatten sie in einem Berg von etwa 100 ruhenden Nacktmullen einen ungünstigen Schlafplatz erwischt. „In diesen unterirdischen Kammern ist es ohnehin stickig“, sagt Professor Gary Lewin vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft. Im Gedränge kann der Sauerstoffgehalt der Luft auf kritische Werte fallen.

Menschen benötigen mindestens zehn Prozent Sauerstoff in der Atemluft. Sonst würde ihr Körper nicht genug Energie für lebenswichtige Zellfunktionen erzeugen. Ostafrikanischen Nacktmullen dagegen macht es nichts aus, stundenlang fünf Prozent Sauerstoff und einen hohen Anteil Kohlendioxid einzuatmen. 18 Minuten überleben sie ganz ohne Sauerstoff. Dann fallen die Nacktmulle in einen winterschlafähnlichen Zustand. Ihr Puls zum Beispiel verringert sich von 200 auf 50 Herzschläge pro Minute. Sobald wieder Luft an ihre Nase dringt, wirkt es, als sei nie etwas gewesen. Es bleiben keine Schäden zurück.

Ungewöhnliche Zucker im Blut der ruhenden Nacktmulle

Wie die Tiere der dicken Luft in ihren Tunnelsystemen trotzen, war bisher ein Rätsel. Nun berichtet ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Gary Lewin und Thomas Park von der University of Illinois in Chicago im Fachmagazin Science von einem einzigartigen Stoffwechselweg, der die Nacktmulle mit einem Ersatztreibstoff versorgt. Wenn der Sauerstoff nicht mehr ausreicht, um Glukose aus der Nahrung zu verstoffwechseln, schalten die Tiere auf Fruktose um. Damit können sie die Energieversorgung lebenswichtiger Organe aufrechterhalten, deren Zellen besonders sensibel auf Sauerstoffmangel reagieren.

Das Team analysierte zunächst in der Metabolomics Unit von MDC-Forscher Dr. Stefan Kempa 86 Stoffwechselprodukte (Metabolite) in Blut und Gewebeproben, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und Bedingungen gewonnen wurden. „Wir haben nicht damit gerechnet, dass die Nacktmulle trotz des Sauerstoffmangels weiter Zucker in ihr Blut freisetzen: Fruktose und besonders Saccharose“, sagt die Wissenschaftlerin und Erstautorin Dr. Jane Reznick aus Lewins Team. „Diese Zuckerarten spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Metabolischen Syndroms, und Saccharose ist bisher nur aus Pflanzen bekannt.“

Nacktmulle nutzen Fruktose als Energielieferanten

Viele Säuger können Fruktose verwerten – allerdings nur in ganz bestimmten Geweben. Zum einen ist ein Transportmolekül namens GLUT5 nötig, das den Fruchtzucker aus dem Blut an die deren Abbau sie verfolgte.

Die Vermutung, dass Nacktmulle ihren Stoffwechsel unbeschadet auf Fruktose umschalten können, prüften die Forscherinnen und Forscher an Herz und Gehirn von Mullen und Mäusen. Sie versorgten die Organe mit einer Nährlösung, die außer Fruktose keine anderen Zucker enthielt. In einer Reihe von Tests waren die Organe der Nacktmulle deutlich leistungsfähiger als die der Mäuse. Synapsen zum Beispiel leiteten auch nach einer Stunde Signale weiter. MDC-Herzspezialist Professor Michael Gotthardt zeigte, dass es für das Herz eines Nacktmulls gleichgültig war, welchen Zucker es bekam. Es schlug und schlug und schlug.

Rettung für Herz- und Hirnzellen?

„Unsere Arbeit ist der erste Nachweis, dass ein Säugetier von Glukose auf Fruktose als Energieträger umschalten kann“, kommentiert Gary Lewin. Er hofft, dass Forscher diese Veränderungen in der Zukunft gezielt in menschlichen Zellen auslösen können. „Wir würden Patienten gern vor den Folgen von Sauerstoffmangel bewahren, den Herzinfarkt oder Schlaganfall binnen Minuten anrichten. “Denkbar wäre das, sagt er. Schließlich seien Maus und Mull auf der genetischen Ebene zu 94 Prozent identisch: „Theoretisch sind also nur kleine Veränderungen nötig, um den Körper auf diesen ungewöhnlichen Stoffwechsel umzustellen.“

In der Natur jedenfalls habe sich das Prinzip bewährt. Die Höhlensysteme der Nacktmulle sind weitläufig, die Tunnelgräber arbeiten sich bis zu 20 Kilometer durch den Boden der ostafrikanischen Halbwüste, um irgendwann zu den Wurzeln und Knollen von Wüstenpflanzen zu kommen. Gut möglich, dass den Mullen dabei mal der Sauerstoff ausgehe, meint Lewin. Wenn sie das überwinden, können die Mulle ihre Ernte trotzdem zurück in die Vorratskammern des Baus bringen – zum Nutzen der ganzen Kolonie.
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Der MDC-Forscher Gary Lewin ist Mitglied im Exzellenzcluster NeuroCure.
 
Originalpublikation:
Thomas J. Park, Jane Reznick, Bethany L. Peterson, Gregory Blass, Damir Omerbašić, Nigel C. Bennett, P. Henning J.L. Kuich, Christin Zasada, Brigitte M. Browe, Wiebke Hamann, Daniel T. Applegate, Michael H Radke, Tetiana Kosten, Heike Lutermann, Victoria Gavaghan, Ole Eigenbrod, Valérie Bégay, Vince G. Amoroso, Vidya Govind, Richard D. Minshall, Ewan St. J. Smith, John Larson, Michael Gotthardt, Stefan Kempa, Gary R. Lewin (2017): „Fructose driven glycolysis supports anoxia resistance in the naked mole-rat.“ Science. doi:10.1126/science.aab3896 Link
 
Quelle:
 
Kontakt:
Prof. Dr. Gary Lewin
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)
E-Mail: glewin@mdc-berlin.de
 

 

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