Wie treffen wir lebensnotwendige Entscheidungen?

31.01.2023

„Simple Minds“: ERC Consolidator Grant für Charité-Neurowissenschaftler

Sind wir hungrig, sollten wir wach bleiben und essen. Sind wir müde, sollten wir schlafen und keine Nahrung zu uns nehmen. Es ist offenkundig: Die Verhaltensprogramme für Essen und Schlafen schließen sich gegenseitig aus. Nur wie legt das Gehirn fest, welches Programm im jeweiligen Augenblick das richtige ist? An der Charité – Universitätsmedizin Berlin geht der Neurophysiologe und Verhaltensforscher Prof. Dr. David Owald dieser Frage jetzt eingehend nach, beispielhaft am winzigen Gehirn der Fruchtfliege. Das Projekt „Simple Minds“ wird in den kommenden fünf Jahren mit rund zweieinhalb Millionen Euro durch einen ERC Consolidator Grant gefördert.

Was lässt uns Entscheidungen treffen? Wie werden wir gesteuert? Und wie entscheiden wir, welches Verhalten zu einem bestimmten Moment das sinnvollste ist? Jahrhunderte alte Fragen, die Forschende immer wieder aufs Neue zu beantworten suchen. „Noch immer ist wenig darüber bekannt, wie genau Netzwerke von Nervenzellen und Filtermechanismen im Gehirn zu gewissen Verhaltensmustern beitragen“, sagt Prof. Owald. „Uns interessieren vor allem die Zusammenhänge von Aktivitätsmustern, Gedächtnisspuren und neuronalen Filtern, wie sie beispielsweise den lebensnotwendigen Bedürfnissen zugrunde liegen. Ziel ist es, die physiologischen Grundlagen dieser Vorgänge besser zu verstehen, denn sie könnten einen Zugang zu einem besseren Verständnis depressiver Zustände ermöglichen.“

Prof. Dr. David Owald arbeitet mit einem internationalen interdisziplinären Team am Institut für Neurophysiologie der Charité und ist Mitglied des Exzellenzclusters NeuroCure. Schon während der Promotion galt sein Interesse molekularen Einflüssen, die die Stärke der Verbindungen zwischen Nervenzellen ändern können. Später erforschte er unter anderem in Oxford, wie Belohnungsgedächtnisse im Gehirn von Fruchtfliegen gespeichert werden. Heute gehören zu den Forschungsschwerpunkten des Neurobiologen neben Grundlagen für Lernprozesse, Suchtverhalten und Gedächtnisveränderungen auch die neuronale Steuerung von Motivation. Der nun gewährte ERC Consolidator Grant folgt im Anschluss an eine Emmy Noether-Nachwuchsgruppe, finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.

Simple Minds: Die Taufliege als Modell


Die Taufliege Drosophila melanogaster, weithin als Fruchtfliege bekannt, hat sehr grundlegende Bedürfnisse. Und sie besitzt mit etwa 200.000 Nervenzellen ein recht übersichtliches Gehirn. Einige Verhaltensweisen, die sich in dieser kleinen Fliege beobachten lassen, und die dazugehörigen Prozesse im Gehirn sind in leicht veränderter Form auf den Menschen übertragbar. Mit genetischen Techniken, die in jüngster Zeit weltweit stark entwickelt wurden, lassen sich gezielt die Aktivität einzelner Nervenzellen oder auch die Aktivität von Nervenzellverbünden beobachten und verschiedene Formen der Steuerung messen – von Molekülen bis hin zu ganzen Netzwerkensembles.

Aufnahme eines Fliegengehirns. Einzelne Nervenzellen werden über gezielte Ansteuerung markiert (Magenta), Nervenzellverbindungen sind in Grün dargestellt. © Anatoli Ender

„Basierend auf unseren Vorarbeiten gehen wir im Projekt ‚Simple Minds‘ der Hypothese nach, dass sensorische Informationen gezielt gefiltert werden, um ein Verhalten wie beispielsweise Schlaf oder auch Ein- und Durchschlafen zu ermöglichen. Grundlage dessen sind rhythmische Netzwerkaktivität und Veränderungen in der Verbindungsstärke von Nervenzellen. Wie das genau geschieht, wollen wir im Gehirn der Taufliege beobachten“, erklärt Prof. Owald. Und was passiert, wenn das Tier nicht erreichen kann, was das Gehirn ihm nahelegt? Wenn es wie Sisyphos trotz aufgebrachter Mühe nicht zum Ziel gelangt? Der Neurowissenschaftler vermutet, dass ein solcher Zustand zu einem Gefühl der Hilflosigkeit führen kann, ähnlich wie es Patientinnen und Patienten mit Depressionen mitunter erleben.

 

Prof. Dr. David Owald, Institut für Neurophysiologie © Charité / NeuroCure l Jannis Keil

Quelle: Pressemitteilung der Charité-Universitätsmedizin

ERC Consolidator Grant
Der ERC Consolidator Grant fördert exzellente Wissenschaftler:innen, die in Europa als Forschungs- oder Projektleiter:innen (Principal Investigator) bahnbrechende Forschung betreiben wollen, bei der Konsolidierung ihrer eigenen, unabhängigen Forschungsgruppe. Consolidator Grant-Ausschreibungen richten sich an Forscher:innen, deren Doktorat zwischen sieben und zwölf Jahren zurückliegt. Der Grant wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmenprogramm Horizon Europe vergeben. Den Projekten stehen jeweils rund zwei Millionen Euro für eine Laufzeit von fünf Jahren zur Verfügung.

Kontakt:
Prof. Dr. David Owald
Institut für Neurophysiologie
Exzellenzcluster NeuroCure
Charité – Universitätsmedizin Berlin
t: +49 30 450 528 128
E-Mail: david.owald@charite.de

Links:
Institut für Neurophysiologie
https://neurophysiologie.charite.de/

ERC Grants an der Charité
https://www.charite.de/forschung/forschung_an_der_charite/forschungsprojekte_und_programme/erc_grants/

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